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Cynthia Bourgeault

Dem Christentum entwachsen?

Thomas Keating in den Bergen Colorados

Thomas Keating vor der Bergwelt Colorados

In ihrem neuesten, von vielen Kommentatoren wie etwa Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama hochgelobten Buch über die »spirituelle Lebensreise« des 2018 verstorbenen Thomas Keating erörtert die amerikanische Theologin und Weisheitslehrerin Cynthia Bourgeault unter anderem, ob und inwieweit der große Trappistenmönch und Mystiker in dem von ihm angestrebten non-dualen oder, wie er es nannte, »Einheitsbewusstsein« letztlich die Grenzen des traditionellen Christentums überschritten hat

homas Keating witzelte einmal gegenüber einem seiner interspirituellen Freunde, Contemplative Outreach [die von ihm gegründete Organisation zur Verbreitung des Gebets der Sammlung] sei sein Tagesjob, des nachts aber sei seine Arbeit die Snowmass Conference [die von ihm ins Leben gerufene Konferenz zum interspirituellen Dialog]. Er wusste – und akzeptierte – vollkommen, dass seine wichtigste Lebensaufgabe in der Mitarbeit an der kontemplativen Erneuerung des Christentums lag, also darin, seine Mitchristen auf die kontemplativen Schätze in ihrem eigenen Hinterhof aufmerksam zu machen. Auf diesem Posten blieb er treulich für mehr als vierzig Jahre und lud eine ganze neue Generation von Suchenden ein, sich dessen bewusst zu werden, was er »die kontemplative Dimension des Evangeliums« nannte.

Cynthia Bourgeault: Richtig alt werden

Fast von Beginn seiner religiösen Laufbahn an fühlte er sich stark hingezogen zu den vereinigenden Lehren anderer Glaubenstraditionen – nicht so sehr als Kompensation für etwas, das er in seiner eigenen vermisst hätte, sondern vielmehr in dem Sinn, dass er seine persönlichen, zutiefst vereinigenden Einsichten in den weniger dualistischen und behauptungsstarren Sprachen der meisten nicht-christlichen spirituellen Traditionen bestätigt und gespiegelt sah.

Der kontem­plative Pfad ist ein gemeinsamer Schatz aller großen Religionen.

Schon in seinen frühen Zeiten als Abt der Trappistenabtei Spencer in Massachusetts (von 1961 bis 1981) hatte er den kontem­plativen Pfad als einen gemeinsamen Schatz aller großen Religionen verstanden und schöpfte aus den Quellen dieser anderen Traditionen, um die kontemplative Praxis innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft zu vertiefen. Im selben Jahr, in dem er Contemplative Outreach gründete, 1984, veranstaltete er die erste Konferenz in Snowmass, Colorado: ein Treffen im kleinen Rahmen, zu dem er Kontemplative aus verschiedenen geistigen Traditionen einlud (Buddhisten, Orthodoxe, Muslime, Juden sowie Hindus) und dessen einziger Tagungs­punkt darin bestand, gemeinsam zu meditieren und aus dem Herzen miteinander zu sprechen.

Diese beiden Arten, die Hände auszustrecken – Contemplative Outreach und die Snowmass Conference –, gaben ihm Kraft, nährten ihn und trugen und befruchteten sein spirituelles Leben. Jeder dieser Kreise bereicherte ihn auf unterschiedliche Weisen.

Ramana Maharshi, Bede Griffith, Ken Wilber udn der Dalai Lama

Ramana Maharshi, Bede Griffith, Ken Wilber und S.H. der 14. Dalai Lama. Quelle: Wikimedia Commons

Die überwiegende Zeit seiner langen Laufbahn hielt er seinen »Tagesjob« und seinen »Nachtjob« sorgfältig auseinander und sprach sein christliches Publikum über die traditionelleren theologischen Kategorien und in der damals aktuellen psychologischen Sprache an, womit er mehr Türen öffnete, als er verschloss.[1]

In seiner »Nachtarbeit« durchstöberte er unermüdlich die vereinigenden Traditionen der Welt. Ins­besondere nach der Beendigung seiner aktiven Lehrtätigkeit kehrte er zu seinen alten Quellen zurück: den christlichen non-dualen Mystikerinnen und Mystikern und den zeitgenössischen hinduistischen- oder hindu-christlichen Meistern wie Ramana Maharshi [/] und Bede Griffith [/]. Er engagierte sich weiterhin intensiv in der von seinem langjährigen Freund Ken Wilber [/] angestoßenen Arbeit rund um die Evolution des Bewusstseins und verband diese mit einem wachsenden Interesse an den neuesten Erkenntnissen der zeitgenössischen Neurowissenschaft und der bahnbrechenden Arbeit des Mind and Life Instituts, das von Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama [/] ins Leben gerufen worden war, einem weiteren persönlichen Freund von Thomas Keating. »Des nachts« suchte er aktiv nach neuartigen Strukturen des Verstehens und neuen Wegen zur Einheit.

Thomas hielt diese beiden Strömungen also stets sorgsam voneinander getrennt – bis er es ab einem gewissen Zeit­punkt nicht mehr tat. In den letzten fünf Jahren seines Le­bens nämlich begannen sein »Tagesjob« und sein »Nachtjob« ineinanderzufließen. Und aus diesem Zusammenfluss entstand jene einzigartige »Fusions-Non-Dualität«, von der ich glaube, dass sie sich als einer seiner reifsten und nachhaltigsten Beiträge zur spirituellen Entwicklung unserer Zeit herausstellen wird.

 

Ist Thomas Keating dem Christentum entwachsen?

Ist das Gebet der Sammlung [die Kontemplationspraxis, die er populär gemacht hat] wirklich christlich? Das sind Fragen, die fast von Anfang an um seine Lehren herumschwirrten – sicherlich brennender in Kreisen konservativerer und fundamentalistischer Christen, die sich im Großen und Ganzen des eigenen christlichen kontemplativen Erbes nicht bewusst sind und dazu neigen, Meditation an sich und generell als unchristlich abzustempeln.

Ein altes Argumentationsmuster aus fundamentalistischen, konservativ-katholischen und evangelikal-protestantischen Kreisen.

Aus diesen Kreisen bekommt man häufig zu hören, das Gebet der Sammlung sei nichts anderes als »getarnte Transzendentale Meditation« und Thomas Keating habe im Grunde genommen seine christlichen Wur­zeln verworfen und sie durch eine Art östliche Nabelschau ersetzt. Eine kurze Tour durch die einschlägigen konservativ-katholischen und evangelikal-protestantischen Social-Media-Seiten wird Ihnen einen Eindruck vermitteln von diesem alten Argumentationsmuster, das es schon immer gegeben hat.

Doch in den letzten Jahren war eine wachsende Unruhe in den Reihen seiner eigenen treuen Anhängerschaft zu verzeichnen im Kielwasser seiner fast vollständigen spirituellen Generalüberholung während der dunklen Nacht des Geistes, in welcher er im Wesentlichen über seine eigene spirituelle Straßenkarte hin­ausging und in zunehmend schwierigere non-duale Gewässer zu geraten schien. […]

Zugegebenermaßen sah es ein paar Jahre lang so aus, als könnte der Würfel in beide Richtungen fallen. Gegen Schluss seines Lebens schöpfte Thomas eine gute Zeitlang (ich würde sagen, zwischen 2013 und 2017) wesentlich stärker aus seinem erweiterten spirituellen Netzwerk als aus seinem unmittel­baren christlichen Unterstützerkreis, da er sich immer mehr in dem zuhause fühlte, was aus dieser größeren spirituellen Perspektive sogleich als »volles non-duales Erwachen« verstanden wird.

Aber auch ohne die überraschende Wendung im Plot (von der ich am Ende dieses Kapitels berichten werde) stand Thomas’ christliche Orthodoxie, wie ich glaube, niemals ernsthaft infrage. Trotz ihrer zunehmend untraditionellen Formulierung […] trägt sie sowohl der Form nach als auch in ihrer Substanz die Wesenszüge des Christentums; in ihrem theo­logischen Kern bleibt sie unerschütterlich kenotisch, subtil österlich und implizit trinitarisch.

Blickt man unter die Oberfläche, wird schnell deutlich, dass die Synthese, zu der Thomas Keating letzten Endes gelangte, wirklich nur von einem reifen und tief verwurzelten Christen geschaffen worden sein kann. Die scheinbaren Schwierigkeiten ergeben sich viel eher aus dem Quantensprung in seiner Bewusstseinsentwicklung als aus irgendeinem Verstoß gegen die Orthodoxie.

Die Verwechslung von Linie und Ebene

Eine der hilfreichsten Klarstellungen in der heutigen interspirituellen Hermeneutik wurde von Ken Wilber eingeführt mit seiner Unterscheidung zwischen der Linie, zu der eine Lehre gehört, und der Ebene, auf der sie repräsentiert wird. Erstere bezieht sich auf die spirituelle Tradition (Christentum, Bud­dhismus, Judaismus und so weiter), durch die eine besondere Lehre übermittelt wird; Letztere bezeichnet die Stufe des Bewusstseins (magisch, mythisch, mental, integral, christisch, non-dual und so weiter), auf der diese Lehre repräsentiert wird.[2] Alle heiligen Traditionen beinhalten das gesamte Spek­trum an Ebenen, und jede Lehre kann auf jeder Ebene aus­gedrückt werden.

Linien udn Ebenen

Aus dieser Unterscheidung ergeben sich zwei überaus wichtige Folgerungen, die beide von entscheidender Bedeu­tung sind, um das Anliegen von Thomas Keating während jener letzten Lebensjahre verstehen zu können.

Erstens: Wenn ein und dieselbe Lehre auf signifikant unterschied­lichen Bewusstseinsebenen vermittelt wird, macht dies den Eindruck, als handle es sich um völlig verschiedene Lehren. Vergleichen wir beispielsweise, wie das christliche Konzept der Sühnopfertheologie [/] verstanden wird auf der Ebene eines magischen oder Stammesbewusstseins (nämlich als ausgleichende Gerechtigkeit) und auf den Ebenen eines christischen und eines non-dualen Bewusstseins (nämlich als ein erhabener Ausdruck substituierter Liebe).[3]

Zweitens: Es besteht eine größere Affinität zwischen Leh­ren (und Suchenden) aus verschiedenen Linien auf ein und derselben Bewusstseinsebene als zwischen unterschiedlichen Bewusstseinsebenen auf ein und derselben Linie. Anders ausgedrückt: Ein Christ, der in Richtung »Einheitsbewusstsein« konvergiert, wird viel mehr natürliche Übereinstimmung finden mit einem Buddhisten, der in Richtung sunyata, oder einem Hindu, der in Richtung samadhi konvergiert, als mit einem christlichen Fundamentalisten, der an einer buchstabengetreuen Auslegung der Bibel festhält.

Ich bin überzeugt, dies verrät uns eine Menge über Tho­mas’ »Nachtjob« und über die wichtige Rolle, die dieser in seinen letzten spirituellen Synthesen gespielt hat. Es war nicht so, dass er die Linien wechselte, vielmehr erfreute er sich an und profitierte von der Gemeinschaft mit anderen, die andere Linien vertraten, aber auf denselben Bewussts­einsebenen arbeiteten, auf denen er unterwegs war.

Und wenn wir nun beginnen, das gesamte Thema von Thomas’ letzter christlicher Orthodoxie abzuwägen, ist es vielleicht angezeigt, zur Snowmass Conference zurückzukehren, jenem etwas verborgeneren, aber darum nicht weniger wichtigen Parallelgleis seiner generellen visionären Mission. Im Verlauf der Jahre erwies sich das tiefe und außerordentlich hilfreiche interspirituelle Netzwerk, das er um sich herum gesponnen hatte, als der Schlüssel, der seine wachsenden Initiativen in Richtung Einheitsbewusstsein und menschlichem Einssein ermöglichte – Initiativen, die sich auf Dauer als sein nachhaltigstes Vermächtnis für das Wiedererwachen des spirituellen Bewusstseins in unserer Zeit herausstellen könnten.

 

© Cynthia Bourgeault / Chalice Verlag 2025
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Natürlich schöpfte er auch umfassend aus der Sprache und dem kog­ni­tiven Rahmen seines »aktualisierten« psychologischen Modells, denn er ging (sicherlich richtigerweise) davon aus, dass die meisten Menschen im heutigen Westen sich mühelos in dieser Begrifflichkeit zurechtfinden. Allerdings hat dieser Ausflug auf das therapeutische Ge­biet in einigen der konservativsten Kreisen der christlichen Gemeinschaft Misstrauen erweckt, die seine Arbeit als »New Age« und unbiblisch betrachten.

[2] Vergleiche Ken Wilber: Integrale Siritualität: Spirituelle Intelligenz rettet die Welt, München: Kösel, 2007, Seiten 192–194 [Anmerkung der Übersetzer].

[3] Zum Thema der substituierten Liebe, einem Kernthema des britischen Mystikers Charles Wil­liams [/] (1886–1945), siehe Cynthia Bour­geault: Maria Magdalena: Die Frau im Herzen des Christentums, Xan­ten: Chalice Verlag, 2022, Seiten 178–191 [A.d.Ü.].