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Jonathan Rowson

Weisheit mit Herz und Verstand

Cynthia Bourgeault

Bild: Chalice Verlag / Pexels

In diesem Beitrag auf seinem Blog The Joyous Struggle [/] schreibt der schottische Philosoph, Autor und Schachgroßmeister Jonathan Rowson darüber, wie er das Werk von Cynthia Bourgeault kennenlernte und in ihr schließlich seine spirituelle Lehrerin fand. Einen weiteren Text von ihm finden Sie im Chalice Magazin unter dem Titel »Leben in der Metakrise« 

»enn der Schüler bereit ist, wird der Lehrer erscheinen«, lautet eine alte Volksweisheit, die mittlerweile zu einem Internet-Meme geworden ist, weshalb wir sie aber nicht geringschätzen sollten. Ich glaube an die intellektuelle Würde dieser Vorstellung. Anders als eine flüchtige Suchmaschinenanfrage nahelegt, handelt es sich dabei wahrscheinlich nicht um ein afrikanisches Sprichwort; auch Laotse scheidet aus – dafür ist sie zu einfach; als Zitat von Buddha lässt sie sich genauso wenig belegen; und falls die Worte tatsächlich in der Kabbala stehen sollten, habe ich sie dort jedenfalls nicht gefunden. Mit größter Wahrscheinlichkeit stammt diese Weisheit aus der Theosophie [/], wo wir einen ziemlich eindeutigen Verweis auf Seite 12 des Buches Light on the Path von Mabel Collins finden, einem Werk aus dem späten neunzehnten Jahrhundert.[1] Auch wenn es zur Herkunft dieses Spruchs sicherlich noch mehr zu sagen gäbe, möchte ich es hier dabei belassen. Wichtig war mir lediglich, Ihnen zu versichern, dass ich ihn mir nicht ausgedacht habe.

Barbara Hepworth Curved Forms

Barbara Hepworth: “Curved Forms (Pavan)”, 1956, metallisierter Gips

Für gewisse Dinge werden wir schlichtweg erst dann bereit, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Das Leben geschieht, die Jahre verstreichen, unsere Empfangsantennen entwickeln sich und mit einem Mal ist es uns vergönnt, Dinge zu hören, zu verstehen und zu fühlen, die wir zuvor nicht wahrgenommen haben. In meinem Fall geschah es nun im nicht mehr ganz zarten Alter von 47 Jahren, dass eine spirituelle Lehrerin aufgetaucht zu sein scheint und ich eine neue Bereitschaft verspüre zu lernen.

In diesem Text möchte ich Ihnen Cynthia Bourgeault vorstellen und erläutern, weshalb mir ihre Arbeit so viel bedeutet. Im Folgenden nenne ich sie ganz unförmlich »Cynthia«, auch wenn Dr. Bourgeault eine bekannte Theologin und eine Priesterin der anglikanischen Episkopalkirche ist. Vor dem Hintergrund eines angeblichen Revivals des Christentums, im Zuge dessen Legionen von bärtigen Männern im Internet lang und breit davon erzählen, wie sie Jesus gefunden haben, möchte ich vorausschicken, dass ich hier genau das nicht tue.

Ich werde hier weder sagen, das Christentum sei die Antwort, noch, das Christentum sei nicht die Antwort. Was ich in diesem Beitrag versuchen möchte, ist, meine Begeisterung für einige scharfsinnige, unbequeme und transformative Perspektiven aus der Tradition der weltweit am weitesten verbreiteten Religion darzulegen, und ich hoffe, Sie damit zu Fragen und zu Antworten in einem weitaus größeren Rahmen einzuladen.

Barbara Hepworth Curved Forms

Das Wahre, Schöne und Gute innerhalb meiner eigenen Tradition

Auf Cynthia bin ich erstmals schon vor einigen Jahren gestoßen und war verzaubert vom funkelnden Wasser, über das sie ihr Boot steuert, in dem Hintergrundvideo, das einen auf ihrer Website cynthiabourgeault.org begrüßt. In ihrer dortigen Beschreibung als »christliche Mystikerin« übertönte jedoch in meinen Ohren das Adjektiv das Substantiv und so war ich damals nicht bereit, mich auf ihre Arbeit weiter einzulassen.

Mit dem subsumtiven, sich alles unterordnenden Charakter des Christentums habe ich so meine Schwierigkeiten. Die Prämisse der einzigartigen historischen Besonderheit Jesu webt einen Umhang enthüllter Wahrheit, der in jeder Beziehung riskiert, Stolz zu nähren. Sicherlich verallgemeinere ich hier ein bisschen, doch nach allem, was ich erlebt habe, werden andere Religionen und Weltanschauungen von Christen nicht so sehr als herausfordernde oder gleichberechtigte Wahrheitsansprüche begrüßt, sondern vielmehr als kulturelle Kuriositäten betrachtet, die entweder sanft über Bord geworfen oder herzlich assimiliert werden müssen in eine größere christliche Vision.

Auf eine echt pluralistische Art und Weise christlich zu sein und somit andere Religionen als genauso gute Wege zu Gott zu betrachten, ist gar nicht so einfach. Wie ich in meinem Blog-Beitrag »Die Kniffligkeit der Ostergeschichte« [/] bemerkt habe, lässt sich die Vorstellung, dass Jesus ein einzigartiger kosmischer Dreh- und Angelpunkt ist, nicht übergehen oder leichter Hand beiseiteschieben. Wenn der Sinn von Gottes Menschwerdung teilweise darin lag, uns durch verkörperte Partizipation am Menschsein kennenzulernen, dann konnte dies nur geschehen durch die Auseinandersetzung mit den bestimmenden Merkmalen der menschlichen Existenz, nämlich unserer Einzigartigkeit und unserer Sterblichkeit. Ich will mich hier nicht an diesen Axiomen berauschen, doch scheint auf der Hand zu liegen, dass Gott nur wissen kann, was es bedeutet, Mensch zu sein, wenn Er erlebt, was es heißt, eine ganz bestimmte Person an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zu sein. Das bedeutet, dass die Menschwerdung Gottes zum kosmischen Zweck, »einer von uns zu werden«, offenbar nur ein einziges Mal geschehen kann. Daraus folgt, dass das »Ärgernis der Einzigartigkeit«, die Jesus darstellt, moralisches Gewicht besitzt, eine Art philosophische Kohärenz, und folglich eine intellektuelle Herausforderung darstellt. Mythos und Ethos und Pathos der christlichen Religion mögen die moderne Welt durchdringen, doch was den Logos angeht, scheint mir die historische Fragestellung – Ist dies tatsächlich geschehen? – einer Betrachtung würdig (auch wenn das »dies« einiger Klärung bedarf). Meine Antwort lautet: »Ich weiß es nicht«, doch das ist bloß eine andere Art zu sagen: »Vielleicht«, und damit bleibt die Frage weiter im Raum.

Ich bin also weder ein Christ, noch bin ich ein Achrist oder Antichrist, was zugegebenermaßen dumm wäre. Tatsächlich war das, was mich vor etwa zehn Jahren bei der Arbeit an meinem Papier Spiritualise – Wie spirituelle Sensibilität helfen kann, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen [/] über die öffentliche Auseinandersetzung mit Spiritualität am stärksten beeinflusst hat, dass ich die Quellen des Wahren, Schönen und Guten innerhalb meiner eigenen kulturellen Tradition wertzuschätzen lernte. Als Resultat daraus verbrachte ich Zeit in Kirchen und im Gebet, las die Bibel und pflegte in gewissem Maß eine Gemeinschaft, um meinem kulturellen und religiösen Erbe Gelegenheit zu geben, in mir zu wirken. Ein Highlight war für mich dabei die Lektüre von Francis Spuffords Buch Unapologetic,[2] die mich denken ließ: »Wow! Wenn Christsein sich wirklich so anfühlt und einen so wunderbar schreiben lässt, dann bin ich dabei.« Und doch konnte ich es nicht. Erst kürzlich wurde mir klar, dass ich nicht wirklich versucht hatte, dabei zu sein. Vermutlich ist mein Weg ein etwas anderer. Vielleicht verläuft er in der Nähe, aber dennoch anders.

Eine Zeit lang dachte ich, es fehle mir an der Demut, mich auszuliefern, mich preiszugeben. Möglicherweise war mein Leben einfach zu komfortabel und gemütlich, oder vielleicht wartete das Erlebnis religiöser Bekehrung einfach hinter der nächsten Ecke. Doch diese Art, es zu verstehen, verortet alles innerhalb einer christlichen Vielfalt. Im Oscar-prämierten Spielfilm Forest Gump gibt es jenen sinnträchtigen Moment, in dem die Hauptfigur Forest mit Lieutenant Dan zusammensitzt, einem erschöpften Vietnam-Veteranen, der seit dem Krieg behindert und aller Illusionen beraubt ist. Dieser fragt Forest mit gespielter Feierlichkeit: »Und, Gump, haben Sie Jesus schon gefunden?« Worauf Forest antwortet: »Ich wusste nicht, dass ich den Auftrag hatte, nach ihm zu suchen, Sir.« Lieutenant Dan lacht und mit ihm Millionen von Zuschauern. Es ist nicht das erste oder einzige Mal in diesem Film, dass Gumps ehrliche Einfalt den Dünkel der Gesellschaftsordnung durchbricht. Gibt es denn nichts anderes zu suchen und zu entdecken? Müssen wir denn überhaupt suchen, wenn Gott doch bei uns ist?

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Meine Suche galt einer lebendigen Tradition

Meine Lektüre und mein Lebenswandel haben mich teilweise zu einem Buddhisten gemacht, teilweise zu einem Taoisten und teilweise zu einem Anhänger der Klarheit einer Welt, die ohne einen monotheistischen Gott oder das Abrakadabra der Wiederauferstehung auskommt. Durch meine fast zwanzigjährige Ehe bin ich auch teilweise zu einem Hindu geworden, und die Transzendentale Meditation [/], die ich seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren praktiziere, stammt aus der vedischen Tradition. Mir wurde sogar ein indischer spiritueller Name verliehen: Vivekananda, was etwa so viel bedeutet wie »unterscheidungskräftige Glückseligkeit«. Für mich fühlt sich dieser Name echt an, und ich spreche manchmal mit Vivekananda, auch wenn ich in der Öffentlichkeit immer Jonathan bleibe. Meinen spirituellen Namen erhielt ich während einer Feuerzeremonie, sodass ich als Bleichgesicht in einem Land von Braungesichtern den Guruvayur-Tempel in Kerala betreten durfte, ohne wie ein oberflächlicher Tourist daherzukommen. Ich war nicht dort wegen einer Darshan oder der Suche nach Erkenntnis, sondern wurde schlicht gebraucht, um unseren kleinen Sohn Vishnu zu tragen, der damals von meiner Frau, Siva, noch gestillt wurde. In Krishnas angeblichem Wohnsitz auf Erden wollten wir das Ritual vollziehen, unser Gewicht in Bananen ermitteln zu lassen. Die Tempelregeln verlangen, dass man, um diesen heiligen Ort betreten zu dürfen, die Apostasie vollziehen muss, was in meinem Fall bedeutete, meinem christlichen Glauben in einer Feuerzeremonie abzuschwören.

Es heißt, man wisse nie genau, was man besitzt, bevor es einem genommen wird. An sich hatte ich nie einen solchen Glauben gehabt, doch in dem Augenblick, in dem ich dem Christentum abschwören musste, erkannte ich, dass ich immer auf einer bestimmten Ebene Christ sein werde. Aber auf welcher genau? Ich denke, auf jener Ebene, auf der ich willens wäre, mich einem Rüpel entgegenzustellen, der auf dem Spielplatz ein Kind schikaniert. Es gibt diesen Spruch: »Noch nicht einmal gut genug, um überhaupt falsch liegen zu können.« Er beschreibt recht gut mein Gefühl gegenüber der landläufigen Kritik am Christentum vonseiten von Menschen, die diese Religion nicht aus der Praxis oder aus der Gemeinschaft oder hinsichtlich ihrer Lehre oder aus eigener Erfahrung kennen. Denen würde ich dann am liebsten entgegnen: Ihr wisst doch gar nicht, wovon ihr redet; ihr wisst nicht, was ihr davon bereits besitzt; ihr wisst nicht, was genau ihr da missachtet.

Gleichzeitig möchte ich meinen christlichen Freunden gerne darlegen, dass es durchaus möglich ist, das Christentum mit einem echten Verlangen nach Gott zu erforschen und es dennoch als unzulänglich zu empfinden. Diese Gefühlsempfindung der Unzulänglichkeit des Christentums mag schlicht daher rühren, dass man die richtige Kirche oder Gemeinschaft noch nicht gefunden hat; allerdings könnte es auch einen Bezug zur Phase der Geschichte haben, in der wir uns gerade befinden und die gekennzeichnet ist durch die spirituelle und materielle Erschöpfung der Moderne, die wir als Metakrise bezeichnen können. Ich vermute, die spirituelle und materielle Erneuerung, die es jetzt braucht, muss auf wesentlich mehr als einer zweitausend Jahre alten Geschichte basieren, auch wenn diese wahr ist.

Seit etwa 2013 spreche und schreibe ich, unter anderem als Direktor des Social Brain Center der Royal Society of Arts [/], über die Wichtigkeit, die geistigen Dimensionen der großen Herausforderungen kollektiven Handelns zu verstehen. Seit dieser Zeit war ich auf der Suche nach einer Form der spirituellen Verpflichtung, Gemeinschaft und Praxis, die kein Ausdruck eines oberflächlichen »spirituellen, aber nicht religiösen« Jekami ist und nicht derart persönlich oder synkretistisch, dass der Narzissmus kleingeistiger Differenzen obsiegt. Meine Suche galt einer lebendigen Tradition, die aus ganzem Herzen im aufrichtigen Dialog mit anderen Traditionen steht und eine postkonventionelle Sensibilität wie die meine willkommen heißt. Und so fand ich, erst kürzlich, Cynthia Bourgeault.

Wonach ich suchte und was Cynthia meiner Überzeugung nach anbietet, ist eine glaubwürdige und schöne Metaphysik, die über das Christentum hinausgeht und es gleichzeitig umfasst und dabei eine Weltanschauung eröffnet, die nicht im konventionellen Sinn christlich, aber auch nicht nicht-christlich ist. Diese kreative Spannung lässt mich guten Gewissens sagen, dass ich in Cynthia meine spirituelle Lehrerin erkenne, auch wenn ich mich selbst nicht als Christ bezeichnen würde. Die nicht-christlichen Elemente ihres Christentums erlebe ich weder als künstlich und unbegründet noch als bloß diplomatisch; sie sind vielmehr erwachsen aus jahrzehntelanger hingebungsvoller Kontemplation mit einem wahrnehmenden Herzen und einem disziplinierten Verstand. Cynthia Bourgeault führt auf einen Weg, auf dem wir die christliche Religion in einer größeren kosmologischen Vision verorten können, die von ihrem Entwurf her geräumig und inklusiv ist.

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Das Bourgeault’sche Christentum ist definitiv ein anderes

Dieses »Erscheinen« einer spirituellen Lehrerin ereignete sich auf ungewöhnliche Weise. Ich erfuhr, dass einer angesehenen Weisheitslehrerin ein Film über meine Ansichten zur »Metakrise« gefallen habe, den eine ihrer langjährigen Schülerinnen, Katie Teague, mit mir produziert hatte. Cynthia hatte dieses Video zu Beginn einiger ihrer Workshops verwendet, um die nachfolgenden Übungen und Gespräche zu verankern auf der Grundlage des Zustands unserer Welt, der uns zum Handeln auffordert. Dies stellte für mich einen intensiven Verbindungspunkt dar und erweckte meine Aufmerksamkeit. Natürlich fühlte ich mich geehrt, doch war mir dies zu Ohren gekommen, bevor ich überhaupt ihre Arbeit kannte. Wenn ich sage, dass die Metakrise letztlich ein spirituelles Problem ist, weiß ich ungefähr, was ich damit meine; nachdem ich allerdings Cynthias Bücher gelesen und mir ihre Vorträge angehört habe, ist mir klar geworden, dass sie ein viel tieferes und umfassenderes Verständnis davon hat, weshalb es mich besonders berührt, auf diese Weise von ihr wahrgenommen worden zu sein.

Der nächste logische Schritt wäre wohl gewesen, ihr eine E-Mail zu schreiben oder an einem ihrer Retreats teilzunehmen; ich wollte jedoch zunächst ihre Arbeit besser kennenlernen. Also las ich während des letzten Jahres – teilweise mehrfach – ihre Bücher Das Auge des Herzens, Die Heilige Dreifaltigkeit und das Gesetz der Drei, Ganz und gar im Weder-noch: Leben in der Non-Dualität, Jesus: Meister der Weisheit, Das Herz im Gebet der Sammlung und Maria Magdalena: Die Frau im Herzen des Christentums sowie ihre schriftlichen Lektionen über Jean Gebser und Teilhard de Chardin. An ihren Retreats habe ich bisher, vor allem aus familiären Gründen, noch nicht teilgenommen; aber ich will dies bald tun. Ich glaube, sie ist, wie man so schön sagt, »vom Allerfeinsten«.

Das »Bourgeault’sche Christentum« ist definitiv ein anderes als das, was die meisten Menschen, egal ob Christen oder nicht, mit den christlichen Prämissen, Parametern und Praktiken assoziieren. Ich kann hier der Tiefe und Schärfe ihrer Vorstellungen nicht gerecht werden; vielleicht komme ich ein anderes Mal, wenn es mir die Zeit erlaubt, auf jede einzelne von ihnen zurück, um sie eingehender darzulegen. An dieser Stelle möchte ich Ihnen lediglich einen Geschmack von dem vermitteln, was ich als ihre wichtigsten Prüfsteine ​​betrachte.

Georges Iwanowitsch Gurdjieff

Georges Iwanowitsch Gurdjieff (1866–1949)

Kosmologie: Die kosmische Gezeitenzone und die imaginative Kausalität

Cynthia beginnt Das Auge des Herzens mit einem Zitat des Philosophen Evan Thompson [/]: »Obwohl einige Illusionen Konstrukte sind, sind nicht alle Konstrukte Illusionen.« Dies scheint mir eine gute Art zu sein, über die Kosmologie nachzudenken, die ich an dieser Stelle nur streifen kann. Auch wenn sie keine Karte ist, die die Realität genau abbildet, ist sie doch geprägt von der Wirklichkeit, wie wir sie erfahren, und bringt uns daher der Wahrheit näher.

Cynthia verortet unsere spirituellen Kämpfe auf einem scheinbar fantastischen, aber unheimlich plausiblen himmlischen (und merkwürdig chemischen und musikalischen) »Schöpfungsstrahl«, wie er von dem zentralasiatischen Enigma namens Georges Iwanowitsch Gurdjieff beschrieben wurde. In seiner vor Kurzem erschienenen spielerischen Biografie bezeichnet Layman Pascal [3] diesen als eine einzigartige Kombination aus »Indiana Jones, Buddha und Borat«, während Cynthia Gurdjieffs Hauptwerk Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel eine »unnachahmliche Mischung aus kosmischer Wahrheit und purer Flunkerei« nennt.[4]

Die Bedeutung Gurdjieffs für Cynthia ist zwar kaum zu überschätzen, dennoch bleibt er einer von vielen Einflüssen, aus denen sie sehr sorgfältig auswählt, und den sie fein zu justieren weiß und – aufgrund ihrer breiten Palette an vergleichbaren Bezugsgrößen – in der Lage ist, aus der richtigen Perspektive zu betrachten, wobei sie dessen Brillanz und Relevanz spürt, ohne sich in seiner »Flunkerei« zu verlieren. Zu Beginn dachte ich tatsächlich, dass sie sich vielleicht einen Scherz erlaube mit der Art und Weise, wie sie Gurdjieffs »Megalokosmos« thematisiert; doch wenn man begreift, dass sie es ernst meint, fängt man an, den Grund dafür zu verstehen. Wir haben es hier mit einer Kosmologie (einer Geschichte über das Wesen des Universums) zu tun, die uns den Rahmen bietet, in dem wir die Kohärenz all dessen erkennen, was Cynthia uns anderenorts (unausgesprochen) wissen lässt über Ontologie (was existiert), über Epistemologie (wie wir wissen) und über Axiologie (was von Wert ist). Zusammengenommen umfassen diese vier Bauteile jede zu Ende durchdachte Metaphysik.

Das operative Prinzip dieser Konstruktion ist die variierende Dichte des Absoluten. In diesem Zusammenhang zitiert sie aus Die großen Arcana des Tarot von Valentin Tomberg:

Die moderne Wissenschaft ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei Materie nur um konzentrierte Energie handelt. […] Früher oder später wird die Wissenschaft ebenfalls entdecken, dass das, was wir »Energie« nennen, lediglich konzentrierte übersinnliche Kraft ist, und diese Entdeckung wird schließlich zur Anerkennung der Tatsache führen, dass jede übersinnliche Kraft schlicht und ergreifend die Konzentration von Bewusstsein ist, das heißt Geist.[5]

Hier werden eine Menge Fragen aufgeworfen, aber eine logische Folge daraus ist die Realität einer imaginativen Welt, die sich mit unserer eigenen überschneidet – eine Idee, die ursprünglich aus dem islamischen mystischen Denken stammt (siehe dazu insbesondere Henry Corbin). Schaut man dergestalt auf die Dinge, gilt: Falls Sie jemals Synchronizität erlebt haben, sind Sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf »die kosmische Gezeitenzone« gestoßen zwischen »Welt 24« und »Welt 48« (wie Gurdjieff sie nennt) oder zwischen der imaginativen Welt und der Erde (wie Cynthia sie bezeichnet).

Welten Reiche Gurdjieff Bourgeault
Welten Reiche Gurdjieff Bourgeault

Systematische Darstellung der Welten und Reiche entlang des Schöpfungsstrahls bzw. der Tonleiter gemäß G.I. Gurdjieff

(zum Vergrößern Maus über die Tabellen führen)

Die Welten nach Gurdjieff
Die Welten nach Gurdjieff

Die Vorstellung der imaginativen Kausalität besagt: Sehr viel von dem, was auf der Erde passiert, geschieht aufgrund von Welt 24. Die Natur dieser Kausalität zu verstehen, setzt eine umfassendere Vision des Selbsts voraus, ein Bewusstsein für verschiedene Arten von Zeit, ein tieferes Verständnis von Raum sowie eine Aufgeschlossenheit für das Muster des Chiasmus.[6] Auch dies verlangt eine ziemliche Denkanstrengung, von der ich aber glaube, dass sie sich lohnt, weil sie in Richtung Wirklichkeit zielt, statt uns von ihr zu entfernen.

Doch obwohl es typischerweise mit der Welt der Träume, Visionen und Weissagungen in Verbindung gebracht wird, das heißt mit einer subtileren Form, wird das Imaginative in der traditionellen Metaphysik immer als objektiv wirklich verstanden und als »eine ontologische Wirklichkeit« umfassend, »die derjenigen der bloßen Möglichkeit ganz und gar überlegen ist.« Es kennzeichnet einen Bereich, der nicht weniger real, sondern realer als unsere sogenannte »objektive Realität« ist und dessen generative Energie den Verlauf der Ereignisse in dieser Welt ändern kann (und es auch tut).[7]

Ich bin mir nicht sicher, wie viel Sinn all das für jene macht, die Das Auge des Herzens nicht gelesen haben, wo wir diese Zusammenhänge sorgfältig dargelegt finden. Alles, was ich sagen kann, ist, dass mir die Betrachtung der Beziehung zwischen Welt 24 und Welt 48 dabei geholfen hat, aus meinem Leben schlau zu werden, und zwar ganz besonders indem sie jene Momente normalisiert, in denen es sich so anfühlt, als würde mir das Universum zuzwinkern, und ich herausfinden muss, wie ich am besten zurückzwinkern kann.

Metaphysik: Das Gesetz der Drei

Cynthia propagiert auch eine besondere Metaphysik, die auf dem »Gesetz der Drei« basiert und die christliche Dreifaltigkeit erklärt, aber gänzlich frei von dieser bleibt, sich auch deutlich von Hegels Konzept von »These, Antithese und Synthese« unterscheidet und universell anwendbar ist. Dieses Gesetz der Drei erklärt sie in ihrem Buch Die Heilige Dreifaltigkeit auf 250 Seiten, wobei sie die Leserschaft für dessen letztes Drittel um Nachsicht ersucht:

Ich bitte gleich von Anfang an um Entschuldigung, wenn dieser Teil in seiner zugegebenermaßen exzentrischen Verschmelzung von mystischer Vision, metaphysischer »Mathe« und Quasikosmologie für einige Leserinnen und Leser etwas zu weit geht; Sie werden sich vielleicht fragen, welchen Bereich der Wirklichkeit ich hier eigentlich beschreibe. Exakt das Gleiche frage ich mich selbst. Aber genau wegen dieses dritten Teils habe ich das ganze Buch geschrieben.[8]

Dieser Erforschung der »ternären Metaphysik« gebührt meines Erachtens umso mehr Bewunderung, weil sich Cynthia dabei weit über ihr beachtliches Fassungsvermögen hinauswagt. All dem Unheimlichen und Wunderbaren, was sie hier darlegt, wohnt eine strikte Kohärenz inne, und es fühlt sich deutlich so an, als leiste sie dabei eine charismatische Arbeit, die nur sie zu verrichten vermag.

Ich will an dieser Stelle nicht tiefer in ihre »ternäre Metaphysik« eintauchen, doch es lohnt sich allemal, sich mit den auch grundlegenden Prinzipien vom Gesetz der Drei eingehender zu beschäftigen:

1_Bei jedem Neuentstehenden sind drei Kräfte involviert: die bejahende, die verneinende und die versöhnende (oder ausgleichende) Kraft.

2_Das Verflechten der drei produziert ein Viertes in einer neuen Dimension.

3_Das Bejahende, das Verneinende und das Versöhnende sind keine Fixpunkte oder permanenten Wesensattribute, sondern können sich verschieben, was sie tatsächlich auch tun, und müssen situativ unterschieden werden.

4_Eine neue Triade kommt immer am ausgleichenden Punkt zum Vorschein.

5_Nicht jede Gruppe von drei Teilen bildet eine Trinität, sondern ausschließlich jene Art von Gruppen, in denen die drei gemäß den Bedingungen des Gesetzes der Drei als dynamisch miteinander verflochten betrachtet werden können.

6_Lösungen im Falle von Blockierungen ergeben sich im Allgemeinen dadurch, dass wir lernen, die dritte Kraft zu entdecken und zu vermitteln, die in jeder Situation präsent, in der Regel allerdings verborgen ist.

7_Das gemäß dem Gesetz der Drei Neuentstehende wird sich im Allgemeinen gemäß dem Gesetz der Sieben weiterentwickeln.

8_Die Idee der dritten Kraft ist in der Religion im Konzept der Trinität zu finden.[9]

Hierbei verdeutlicht Punkt 2 das zentrale Wirkprinzip dieses Gesetzes, das am Praxisbeispiel von Mehl und Wasser illustriert wird, die nur dann Brot ergeben, wenn die dritte Komponente des Feuers hinzukommt. Darüber hinaus sind noch weitere besondere Aspekte beachtenswert. Cynthia führt aus, dass das Gesetz der Drei »über das ganze Spektrum schöpferischen Tuns hinweg gültig ist – vom Subatomaren bis zum Galaktischen und vom Wissenschaftlichen bis zum Psychologischen und Soziologischen«[10] und: »Das Wichtigste, was wir uns hierbei merken müssen, ist, dass die dritte Kraft eine unabhängige Kraft ist, den anderen beiden gleichgestellt, also kein Produkt der ersten beiden.« [11]

Cynthia ist der Überzeugung, das Gesetz der Drei sei die »metaphysische Antriebswelle des Christentums« sowie dessen »fehlendes Feminines«.[12] Ihr Buch beginnt sie allerdings mit der Ausführung darüber, »Warum die Feminisierung der Dreifaltigkeit nicht funktioniert« mittels einer weiblichen Darstellung des Heiligen Geistes. Sie glaubt, der Fehler darin liege in einer Verwechslung: »Wenn wir das metaphysische Prinzip als eine dogmatische Stütze missbrauchen, haben wir dessen innewohnende Transformationsenergie nicht begriffen« und übersehen, dass »Zeit – das heißt ein sequenzieller Prozess – eine wesentliche Zutat ist, und gerade in der Zeit werden wir das fehlende Feminine finden.« [13] Cynthias Metaphysik geht der christlichen Doktrin voran und über sie hinaus und wohnt ihr deshalb auch inne.

Gesetz der Drei nach Gurdjieff

Im nebenstehenden Diagramm gibt sie uns eine leicht verständliche Darstellung des Gesetzes der Drei an die Hand, das sie im Verlauf des Buches in weiteren Dreiecken detailliert ausführt.

Mir sind Cynthias politische Ansichten unbekannt, doch aufgrund ihrer Wertschätzung meiner Gedanken zur Metakrise bin ich überzeugt, dass sie die Verfasstheit unserer Welt aufgeschlossen betrachtet. Das Gesetz der Drei besitzt meiner Meinung nach eine metapolitische Dimension, welche die schöpferische Generativität ins Zentrum der Realität rückt. Ich empfinde eine Art tiefe Hoffnung in dieser gut begründeten, stets offenen und immer lebendigen ternären Struktur, die ich in den relativ geschlossenen und konservativen Denkkategogien des »Zusammenfalls der Gegensätze« oder der »metamodernistischen Oszillation« vermisse.

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Das Gebet der Sammlung: Den Verstand ins Herz bringen

Obwohl Cynthias Weltsicht auf einem langjährigen religionswissenschaftlichen Studium basiert, ist das Gebet der Sammlung (oder das Zentrierende Gebet) ihre wichtigste Praxis und Lehre. Dabei handelt es sich um eine eigenständige spirituelle Übung, die ihre christlich-mystischen Wurzeln im klassischen Text Die Wolke des Nichtwissens aus dem vierzehnten Jahrhundert hat; allerdings lässt sie sich auch als eine christliche Adaption der Transzendentalen Meditation interpretieren. Bei Letzterer geht es um die Absicht, offen zu bleiben für das, was sich wie ein natürlicher innerer Entfaltungsprozess anfühlt, und nicht um die Fokussierung auf irgendetwas Konkretes. Zweck dieser Übung ist weder, unsere persönlichen Bitten Gott vorzutragen, noch die Verbesserung unseres Gemütszustands – im Zentrum dieser Praxis steht unsere Bemühung, unseren Verstand nach und nach in unser Herz zu bringen.

Tatsächlich argumentiert Cynthia, das Herz sei – im übertragenen wie auch im buchstäblichen Sinn – »ein Organ der Wahrnehmung« und der Ort, von dem aus wir verstehen müssen, um über die Dualität von Subjekt und Objekt hinauszugelangen, die unsere Wahrnehmung verzerrt. Das Gebet der Sammlung hat im Kern den Zweck, unser Nervensystem zu verfeinern, damit es sich in diese non-duale Richtung verändert. Cynthia stimmt dem Phänomenologen Robert Sardello zu, der in seinem Buch Silence: The Mystery of Wholeness schreibt: »Das physische Organ des Herzens funktioniert gleichzeitig als ein physisches, psychisches und spirituelles Organ.« [14] Das Herz schlägt, nimmt wahr und verbindet sich. Im Weiteren bezieht sich Cynthia in ihrem Buch auch auf die sechste der Seligpreisungen in der Bergpredigt: »Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen« (Mt 5.8), und ergänzt: »Jedenfalls ist es offenkundig, dass Jesus ein grundlegendes Verständnis vom Herzen als einem Organ für die spirituelle Wahrnehmung hatte und seine eigene hoch spezialisierte Methode propagierte, wie sich dieser Quantensprung im menschlichen Bewusstsein katalysieren lässt.« [15]

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Religion: Jesus als non-dualer Lehrer, die gnostischen Evangelien und Maria Magdalena

Jesus ist für Cynthia primär ein Weisheitslehrer, der non-duales Bewusstsein und Metanoia vermittelt. Auch wenn sie sehr versiert ist in den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas und Johannes) und häufig tatsächlich dort beginnt, scheint sie doch überzeugt zu sein von der Stichhaltigkeit und dem transformatorischen Potenzial vieler (wenn auch nicht aller) der im Jahr 1945 in der Nähe von Nag Hammadi entdeckten gnostischen Evangelien. In diesen treffen wir auf einen ziemlich anderen Jesus, einschließlich einer mit neuen Augen betrachteten Maria Magdalena als Jesu vertrautester Jüngerin, mit weitreichenden Folgen für die Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen Männern und Frauen damals möglicherweise waren – und es noch immer sein könnten.

Im ersten Kapitel ihres Buchs Jesus: Meister der Weisheit, unter der Überschrift »Jesus als ein Erkenntnismoment«, führt sie aus:

Wir leben genau jetzt in einer Ära, die von manchen als die Zeit eines großen Paradigmenwechsels bezeichnet wird und in der sich eine vielleicht nie zuvor dagewesene Möglichkeit eröffnet, die Kernfragen ganz neu zu stellen: Was meinen wir mit »Christentum«? Durch welche Brille schauen wir? Wer ist der Meister, zu dem wir uns in unserem Leben bekennen und für den wir eintreten, wenn wir uns »Christen« nennen?

Der Blickwinkel, den ich in diesem Buch einnehme, besteht darin, Jesus zuallererst und zuvorderst als einen Weisheitslehrer zu begreifen, als einen Menschen (für den Moment lasse ich das ganze Thema der Göttlichen Herkunft beiseite), der ganz offensichtlich aus einer alten Tradition namens »Weisheit« hervortritt und darin wirkt, einer Tradition, die manchmal auch als sophia perennis [»immerwährende Weisheit«] bezeichnet wird und die tatsächlich das Quellgebiet aller großen religiösen Traditionen der heutigen Welt ist. Sie befasst sich mit der Transformation des ganzen Menschen. Transformation von was in was? Nun, fürs Erste von unseren animalischen Instinkten und unserer Egozentrik hin zu Liebe und Mitgefühl, von einer wertenden und dualistischen Weltsicht hin zu einer nicht dualistisch geprägten Akzeptanz.

Ich denke hier an eines meiner liebsten Zitate, das dem britischen Schriftsteller G.K. Chesterton zugeschrieben wird: »Das Christentum ist kein Fehler; es wurde einfach noch nicht ausprobiert.« [16]

Es ist wichtig, auf Cynthias Ansicht hinzuweisen, dass Maria Magdalena eine weitaus bedeutungsvollere Gestalt ist, als uns zu glauben gelehrt wurde. Im dritten Teil ihres Online-Kurses Mary Magdalene: Apostle to Our Own Times drückt sie ihr Bedauern über den Verlauf der Geschichte der christlichen Lehre aus:

Es sind die Erleuchteten, die aus der Geschichte herausgeschnitten wurden. Jene, die wir als Vertreter der apostolischen, ununterbrochenen Linie betrachten, sind in Tat und Wahrheit die Verbohrten, die sich engstirnig an die Regeln halten, mit ihrem Würgegriff an der unerleuchteten Erzählung festhalten und uns allen den Blick auf die erleuchtete Geschichte versperren.

Augustinus uns Norbert von Xanten

Jean Gebser (1905–1973). Quelle: Wikimedia Commons

Bewusstsein: Die Wiedereinsetzung des Magischen und Mythischen zur Mäßigung des Mentalen und zur Förderung des Integralen

In letzter Zeit hat sich Cynthia der Vision des deutsch-schweizer Philosophen Jean Gebser [/] über die Entwicklung des Bewusstseins gewidmet. Sie sagt, wir seien herausgefordert, unsere magischen und mythischen Bewusstseinsstrukturen einhergehend mit unserer mental-rationalen Funktion zu entwickeln, damit eine neue Art von Bewusstsein entstehen kann, die von Gebsers »diaphaner Bewusstseinsstruktur« geprägt ist, einem unserer Zeit adäquateren Verstand, der uns in die Lage versetzt, »die Welt zu durchschauen«.

In ihrem Blog Exploring Jean Gebser [/] schreibt sie auf Seite 30:

Während die innere Arbeit von uns, die wir uns der Weisheit, der Kontemplation und der Evolution verschrieben haben, vielleicht danach strebt, unsere eigene bewusste Emergenz zu fördern, glaube ich, dass die gemeinsam zu unternehmende kulturelle Arbeit darin besteht, die traditionellen Strukturen, in denen wir gelebt haben, zu reparieren und zu heilen, sodass sie sich zu gesunden Gefäßen der unterdrückten mythischen und magischen (und was das betrifft, auch der mentalen!) Strukturen werden können. Ich bin davon überzeugt, dass mittels der Korrektur dieses Ungleichgewichts die vollständige Emergenz des Integralen (das sich bereits so deutlich in den Startlöchern befindet) ihre eigene unaufhaltsame Kraft entfalten wird. Es gibt keinen Grund, im Zug ganz nach vorne zu stürmen, um als Erste am Bahnhof anzukommen; vielmehr gilt es, sich um die Passagiere in allen Waggons zu kümmern und sie bei der Stange zu halten, während in Tat und Wahrheit der Bahnhof auf den Zug zurast.

Obwohl die Analogie, die Cynthia hier vorbringt, riskiert, als ein wenig selbstzufrieden und oberflächlich zu erscheinen, kommt mir genau diese Interpretation von Gebser in den Sinn, wenn ich an den guten Verlauf des diesjährigen Realisation Festivals [/] in Dorset zurückdenke. Am Anfang tanzten wir, dann gab es Gesang, musikalische Improvisation, Geschichtenerzählen und Poesie… Es war keinesfalls alles »mythisch« und »magisch«, aber dennoch fühlte ich als relativ intellektueller Mensch, dass mein Intellekt auf eine gute Art und Weise »am richtigen Ort« war – berechtigt und anerkannt, aber nicht beherrschend. Und weil den mentalen, den mythischen und den magischen Schwingungen (um nicht zu sagen »Bewusstseinsstrukturen«) die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde, fühlte es sich so an, dass es auch einige Momente der Emergenz und der Transzendenz gab.

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Sowohl als auch und entweder oder

Dies war nun ein recht schneller Galopp durch das Korpus von Cynthia Bourgeaults außergewöhnlichem Werk, dessen vollständige Erkundung eine Lebensaufgabe sein mag. Da ist noch so viel mehr, was zu teilen wäre und ich hier nicht darlegen kann. Mein Anliegen war es zu erklären, weshalb ich Cynthias Sicht der Realität als derart brillant und schön empfinde. Mir ist klar geworden, dass ich mich in ihrer Vision zurechtfinden kann und sie meine Erfahrung direkter anspricht als jede andere Quelle.

All jenen, die sich in der Integralen Theorie [/] auskennen, möchte ich – sozusagen als Kurzfassung und zur Kennzeichnung außergewöhnlicher Einsicht (mit allen gebotenen Vorbehalten hinsichtlich der erheblichen Schwächen von Stufenmodellen) – sagen, dass Cynthia sogar den »dritten Rang« vertritt. Ihre Arbeit ist spirituell inspiriert und kreativ generativ. Ihr Denken geht weit über das bloße Vermögen hinaus, mehrere Perspektiven einzunehmen und Kopf und Herz zusammenzuführen, hin zu einer durchgehend transpersonalen Übermittlung. Mir ist selbstverständlich bewusst, dass ich nicht wirklich zu einer abschließenden Beurteilung in der Lage bin; aber hinsichtlich Erhabenheit des visionären Umfangs sowie der intellektuellen Strenge, Kühnheit, Komplexität und Vitalität ist der einzige mit ihr vergleichbare Theoretiker, den ich kenne, Sri Aurobindo. (Als ein Häretiker innerhalb der christlichen Tradition wäre ihr noch der österreichisch-amerikanische Theologe und Philosoph Ivan Illich vergleichbar, doch halte ich ihn nicht für annähernd so inspirierend.)

Das zentrale und wichtigste Merkmal der Vision Cynthias scheint mir zu sein, dass sie ausgedehnt und vielseitig genug ist, um eine Art »Sowohl-als-auch-und-entweder-oder«- Herangehensweise zur Religionszugehörigkeit zu erlauben. Was ich damit sagen will, ist, dass wir uns vom Entweder-oder eines »Christ oder Nicht-Christ« hin zum Sowohl-als-auch eines »Christ und Nicht-Christ« bewegen, was aber noch nicht das Ende darstellt. Aus einem Blickwinkel des »Sowohl-als-auch-und-entweder-oder« kann man aus prinzipiellen, pragmatischen oder persönlichen Gründen entscheiden, ob man sich als Christ begreift oder nicht.

Ich verstehe, warum eine solche »Elision« auf echte Gläubige ein wenig heikel wirkt. Doch nicht nur ich empfinde die umfassendere und nicht ausschließende Perspektive als die conditio sine qua non für eine spirituelle Heimkehr und als das einzige Christentum, in dem ich mich zur Gänze wiedererkennen kann. Ich bin Cynthia dankbar, weil sie mir hilft, solch eine Sichtweise von ganzem Herzen zu vertreten. Und die Reise ist noch nicht zu Ende…

© Jonathan Rowson 2024
Deutsche Übersetzung © Helga Jacobsen & Robert Cathomas

Anmerkungen

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[1] Mabel Collins: Light on the Path, Boston: Occult Publishing Company, 1885.

[2] Francis Spufford: Unapologetic, Lodon: Faber and Faber, 2012; deutsch: Heilige (Un)Vernunft!: Warum Christsein, allen rationalen Bedenken zum Trotz, noch immer erstaunlich viel Sinn macht, Moers: Brendow Verlag, 2014.

[3] Layman Pascal: Gurdjieff for a Time Between Worlds: Hyperpersonal Essays on the Grandfather of Metamodern Spirituality, ‎ Stannard, VT: Sky Meadow Press, 2024.

[4] Cynthia Bourgeault: Die Heilige Dreifaltigkeit und das Gesetz der Drei, Xanten: Chalice Verlag, 2020, Seite 38.

[5] Im Original: Valentin Tomberg: Meditations on the Tarot, Rockport, MA: Eelement Books, 1993, Seite 574; deutsch: Die großen Arcana des Tarot, Peiting: Meum Vita Verlag, 2020, Band 4, Seite 632.

[6] »Der Chiasmus ist eine traditionell rhetorische oder literarische Form, doch das Gestaltungsprinzip ist gleichermaßen in der Musik und in den bildenden Künsten anwendbar. Diese Form besteht aus zwei aneinandergekoppelten Ereignissen, die symmetrisch um ein Zentrum angeordnet sind. Die einfachste Form ist B–A–B‘, wobei A für das Zentrum steht, und B für die symmetrischen Flügel. Die nächstkompliziertere Ebene ist C–B–A–B’–C‘, von wo aus die Sequenz sich fortsetzt. Sie erkennen sicher das hier zugrunde liegende Muster: Im Wesentlichen ist es wie ein Stein, der in einen Teich geworfen wird und fächerförmig konzentrische Kreise um sich herum ausbreitet. Der Chiasmus ist also eine ganz andere Art, Kausalität anzuordnen« (Cynthia Bourgeault: Das Auge des Herzens: Eine spirituelle Reise ins Reich des Imaginativen, Xanten: Chalice Verlag, 2021, Seite 78).

[7] Ebenda, Seite 32.

[8] Cynthia Bourgeault: Die Heilige Dreifaltigkeit und das Gesetz der Drei, Xanten: Chalice Verlag, 2020, Seite 20.

[9] Ebenda, Seiten 41–42.

[10] Ebenda, Seite 118.

[11] Ebenda, Seite 43.

[12] Ebenda, Seite 18.

[13] Ebenda, Seite 37.

[14] Robert Sardello: Silence: The Mystery of Wholeness, Benson, NC: Goldenstone Press, 2006; deutsch: Ganzheit als Mysterium, Norderstedt: Books on Demand, 2018, Seite 119.

[15] Cynthia Bourgeault: Herz im Gebet der Sammlung: Non-duales Christsein in Theorie und Praxis, Xanten: Chalice Verlag, 2021, Seite 68.

[16] Cynthia Bourgeault: Jesus: Meister der Weisheit, Xanten: Chalice Verlag, 2020, Seite 16.